Übergreifend

Das Desinteresse der Demokraten ist die größte Gefahr für die Demokratie

Prof. Dr. Norbert Lammert bei den „Berliner Gesprächen“

Bundestagspräsident a. D. Prof. Dr. Norbert Lammert gilt als scharfer Denker und hervorragender Rhetoriker, der zudem mit hintergründigem Witz ausgestattet ist. Bei den „Berliner Gesprächen“ unserer Unternehmensgruppe hat er das einmal mehr unter Beweis gestellt. In seinem Vortrag befasste sich Professor Lammert mit der Situation der Bundesrepublik Deutschland nach den jüngsten Bundestagswahlen. Thorsten Engelhardt, Pressesprecher unserer Unternehmensgruppe, berichtet.

 

Dem 2017 nach 37 Jahren aus dem Bundestag ausgeschiedenen Politiker ging es in seinen Betrachtungen nicht um Machtverteilung oder Farbkonstellationen; er lenkte den Blick auf eine tieferliegende Strömung, durch die die Grundfesten der freiheitlichen Ordnung erodieren: das Desinteresse der Demokraten an der Demokratie. An diesem Punkt endeten Norbert Lammerts Analysen, zusammengefasst in seinem „vorläufigen Lieblingssatz“, der von Barack Obama stammt: „Die Demokratie ist immer dann am meisten gefährdet, wenn die Menschen beginnen, sie für selbstverständlich zu halten.“

 

Die Menschen wollen ihre Interessen politisch umgesetzt sehen

Das führt zwangsläufig zu der Frage, wie es denn um die Einstellung des Souveräns zu seiner Demokratie im Lande bestellt ist. Professor Lammert sieht durchaus die – von Soziologen beschriebene – Tendenz zu einer Segmentierung der Interessen oder zu einer „Gesellschaft der Singularitäten“. „Die Erwartung nimmt deutlich zu, dass die eigenen, spezifischen Interessen politisch aufgenommen werden.“ Parteien, die entsprechend solche Interessen vorrangig umsetzen wollen, hätten damit zumindest den Verdacht auf ihrer Seite, wählernäher zu sein als die großen Volksparteien. Deren Geschäftsmodell bestehe vielmehr darin, eine Balance der unterschiedlichen Interessen herzustellen, was sie in den Augen vieler Wählerinnen und Wähler weniger attraktiv erscheinen lasse.

Diese Tendenzen seien in allen westlichen Gesellschaften zu beobachten, sagte Lammert. In Deutschland spiegele sich das darin, dass mittlerweile sieben Parteien im Bundestag vertreten seien. Kurioserweise habe sich damit gleichzeitig der Einfluss der Wähler auf die Regierungsentscheidungen verringert, weil so das Parlament aushandeln muss, was unter den gegebenen Bedingungen überhaupt mehrheitsfähig ist. „Deutschland hat gewählt, aber was hat es eigentlich entschieden?“, formulierte es der ehemals zweithöchste Repräsentant des Landes in einer Frage. Wer die künftige Regierung bilde, hätten die Wählerinnen und Wähler mit ihrem Abstimmungsverhalten letztlich dem Parlament überlassen. Er belegte das mit Zahlen: Erstmals haben die beiden größten Parteien im Parlament weniger als 50 Prozent der Stimmen auf sich vereinigt; erstmals sind die dritt- und die viertstärkste Partei gemeinsam stärker als die erst- beziehungsweise die zweitplatzierte Partei. Wie auch immer sich die Parteien am Ende zu Koalitionen fänden, es werde schließlich ein Kanzler ins Amt kommen, der von 80 Prozent der Wählerinnen und Wähler nicht gewählt worden sei.

Das hat für den langjährigen CDU-Politiker seine Ursache in der Haltung von drei Viertel der Wahlberechtigten. Sie sagen, dass sie nicht mehr Stammwähler einer Partei sind, sondern je nach Thema und zur Wahl stehenden Personen mehrere Optionen haben und diese auch nutzen. Die Zahl deckt sich mit den rund 76 Prozent der Stimmen, die bei der Wahl auf CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP entfallen sind. „Das ist die neue bürgerliche Mitte“, charakterisierte Norbert Lammert diese Entwicklung.

 

Demokratie ist kein Naturzustand

Der demokratische Rahmen, der diese Entwicklungen zulasse, sei indes nicht auf ewig festzementiert. Auch wenn die meisten Wählerinnen und Wähler keine andere Staatsform mehr kennen würden, „Demokratie ist auch in Deutschland kein Naturzustand“, mahnte Norbert Lammert in der Veranstaltung auf dem Berliner EUREF-Campus. „Politische Systeme stehen allesamt nicht unter Denkmalschutz.“ Dabei scheiterten Demokratien heute nicht durch Putsch, Bürgerkrieg oder Besatzung fremder Armeen. „Demokratien erodieren durch Wahlentscheidungen, mit denen Wählerinnen und Wähler in der Regel korrekt verlaufenden Wahlen Gruppierungen oder Personen mit der demokratischen Legitimität ausstatten, mit der die anschließend mal an der Unabhängigkeit der Justiz herumfummeln, mal an der Pressefreiheit, mal an der Freiheit von Wissenschaft und/oder Kunst; am liebsten an allem gleichzeitig und regelmäßig ohne förmliche Änderung der Verfassung.“

 

Die Mehrheit muss bereit sein, die Demokratie über eigene Interessen zu stellen

Seine Schlussfolgerung: „Demokratien sind strukturell keine sich selbst erhaltenden Systeme. Sie stehen und fallen mit dem Engagement ihrer Bürgerinnen und Bürger. Sie stehen so lange, wie es dieses Engagement für die Erhaltung einer solchen Ordnung gibt, und sie sind verlässlich an ihrem Ende, wenn dieses Engagement fällt.“ Letztlich gehe es darum, dass eine Mehrheit der Bürger bereit sein müsse, die Aufrechterhaltung demokratischer Strukturen für noch wichtiger zu halten als die Durchsetzung der eigenen Interessen. Lammert: „Das kann man für eine Zumutung halten. Ist es gelegentlich auch. Aber es ist die Voraussetzung dafür, dass demokratische Strukturen überleben können.“

Diesen Beitrag teilen