Cyber/D&O

„Transformationsprozessen offen gegenübertreten“

Industrie 4.0: Wohin führt die Reise? Ein Interview mit Anja Moldehn, Geschäftsführerin Centrum Industrial IT

Im Centrum Industrial IT (CIIT) soll heute die industrielle Welt von morgen vorgedacht werden. Das CIIT (www.ciit-owl.de) versteht sich als ein Ort, der Forschung und Industrie bei Fragen der industriellen Automation und der Digitalisierung zusammenbringt. Anja Moldehn ist Geschäftsleiterin und Technologiemanagerin des Forschungs- und Entwicklungszentrums, das auf dem Innovation Campus Lemgo angesiedelt ist. Sie studierte elektrische Energietechnik an der Fachhochschule Bielefeld und beschäftigt sich als Ingenieurin seit vielen Jahren mit dem Thema Industrie 4.0. „Das größte Risiko dabei ist, die Chancen nicht zu sehen, die in der digitalen Transformation stecken“, sagt sie im Interview.

 

Wo stehen wir in Sachen Industrie 4.0?

Anja Moldehn: Wir sind mittendrin, wenn Sie so wollen. Industrie 4.0 ist ja kein neuer Begriff mehr, er ist vor rund zehn Jahren geprägt worden, um die Relevanz der Digitalisierung für die Produktionswelt zu unterstreichen. Das Schlagwort hat zunächst einen Hype ausgelöst. Das war auch wichtig, denn das Thema musste erst einmal verankert werden. Wenn wir uns der Digitalisierung in der Produktion nicht stellen, werden es andere tun, und wir verlieren unsere Spitzenposition im weltweiten Wettbewerb.

Mittlerweile ist vieles entstanden. Es wurden Standards mit weltweiter Geltung geschaffen. Das ist essenziell, denn es geht ja um einen Datenaustausch, um die Kommunikation von Maschinen im Internet of Things, im Internet der Dinge. Oder genauer: im Industrial Internet of Things – kurz IIOT. Führend dabei ist die deutsche Plattform Industrie 4.0, die wesentlich dazu beigetragen hat, dass die Welt hier an einem Strang zieht. Also: Die Basis ist geschaffen, nun steht der weitere Ausbau an. Alle großen Unternehmen sind dabei, allerdings stellen wir fest, dass erst recht wenige kleine und mittlere Unternehmen sich mit dem Themenkomplex befassen.

 

Woran liegt das, wo befinden sich die Hemmschuhe?

Anja Moldehn: Noch gibt es keinen Baukasten, aus dem ich die für mein Unternehmen passenden Bausteine einkaufen kann. Gerade für kleine und mittlere Unternehmen besteht die Herausforderung sicherlich darin auszuloten, wo die ganz individuellen Risiken und Chancen der Transformation liegen, welche digitalen Geschäftsmodelle das einzelne Unternehmen anbieten kann, wie die eigenen Produktionsprozesse dafür optimiert und in die digitale Welt übersetzt werden können. Dafür fehlt oft Zeit, aber auch Know-how und tatsächlich eine gemeinsame Sprache. Ein IT-ler und ein SPS-Spezialist (Speicherprogrammierbare Steuerungen, d. Red.) verstehen sich nicht auf Anhieb. Die grundsätzlichen technischen Fragestellungen haben wir gelöst, die nächste Herausforderung liegt darin, die Menschen näher an das Thema und zueinander zu bringen. Denn es ist entscheidend, dass wir nicht nur tolle Lösungen entwickeln, sondern sie auch als Geschäftsmodelle nutzen. Sonst werden wir früher oder später die verlängerte Werkbank anderer.

 

Wie unterstützen Sie in diesem Annäherungsprozess?

Anja Moldehn: Kein Unternehmen kann allein Antworten auf die anstehenden Fragen finden. Das geht nur in Kooperation mit anderen. Netzwerke wie unser Centrum Industrial IT (CIIT) sind Anlaufpunkte dafür und bieten Möglichkeiten, etwas auszuprobieren, Fragen mit anderen zu diskutieren, die Grundlagen zu verstehen. Wir bieten hier einen Raum, um gemeinsam vorwettbewerbliche Forschung zu betreiben und in einem vertrauensvollen Umfeld auch Probleme zu besprechen, die in den Transformationsprozessen in den jeweiligen Unternehmen auftreten.

 

Welche Möglichkeiten ergeben sich aus Ihrer Sicht durch Industrie 4.0?

Anja Moldehn: Bei Industrie 4.0 geht es um mehr als um miteinander vernetzte Maschinen in einer Fabrik. Das ist längst erreicht. Industrie 4.0 heißt vielmehr, die Chancen der Digitalisierung auf den Handlungsfeldern Nachhaltigkeit, Souveränität und Interoperabilität zu nutzen. Interoperabilität steht dafür, die Möglichkeiten zu schaffen, alles mit allem zu vernetzen; Nachhaltigkeit stellt natürlich den sparsamen Umgang mit natürlichen Ressourcen in den Mittelpunkt. Souveränität bedeutet, dass die Möglichkeiten nicht nur Wenigen vorbehalten bleiben sollen, sondern dass jeder daran teilhaben kann, um sein eigenes digitales Geschäftsmodell auf die Beine zu stellen. Ein Endzustand kann nicht beschrieben werden; je tiefer man sich mit der Materie beschäftigt, umso mehr neue Möglichkeiten ergeben sich. Dabei sprechen wir hier ja von der Digitalisierung der Produktion. Aber dieser Teilbereich hat wiederum zahlreiche Anknüpfungspunkte zu anderen Feldern, in denen auch Digitalisierung stattfindet: Mobilität, Energieerzeugung, Wohnen … Das bedeutet eine tiefgreifende Umwälzung der bisherigen Denkmodelle und Systeme. Insbesondere für kleinere Unternehmen verbinden sich damit aber große Chancen, denn sie können häufig dynamischer agieren als große Organisationen.

 

So ein Umkrempeln ruft oft auch Ängste hervor, zum Beispiel das Bild von der menschenleeren Fabrik, in der nur Maschinen und Roboter tätig sind. Was ist Ihr Argument, um solche Szenarien zu entkräften?

Anja Moldehn: Schon heute sind längst nicht mehr so viele Menschen in Fabrikhallen tätig, wie das vielleicht noch vor zehn oder zwanzig Jahren der Fall war. Arbeitsprozesse haben sich immer geändert und werden sich mit der Digitalisierung auch weiter ändern. In vielen Fällen wird die Digitalisierung zum Wohl der Menschen wirken, indem sie Tätigkeiten erleichtert. Auf jeden Fall wird die Arbeit abwechslungsreicher werden. Notwendig ist dafür aber sicherlich, den Transformationsprozessen offen gegenüberzutreten und gemeinsam im Unternehmen mit allen Beteiligten zu überlegen, wie man sie gut gestaltet.

 

Haben wir die Zeit für solche Findungsprozesse oder sind dann schon andere an uns vorbeigezogen?

Anja Moldehn: Wir sind nicht langsamer als andere auf diesem Sektor unterwegs, alle bewegen sich ebenfalls noch am Anfang der Entwicklung. Aber wer sich noch gar nicht mit dem Komplex beschäftigt hat, sollte loslegen.

 

Unser Wohlstand beruht weitgehend auf der Ingenieurskunst in analogen Techniken. Hilft uns das beim Sprung ins Digitale?

Anja Moldehn: Die technische Basis für die Industrie 4.0 stammt zu großen Teilen aus Deutschland, insofern hilft uns unsere Ingenieurstradition hier sicherlich. Aber Technologien werden schnell von neuen, besseren abgelöst, das Smartphone ist das beste Beispiel dafür. Deshalb wird es künftig noch wichtiger zu schauen, was sich rechts und links neben dem eigenen Fachgebiet tut. Auch die Menschen benötigen eine gewisse Interoperabilität. Eventuell ist es ein guter Weg, viele junge Mitarbeitende in diese Prozesse einzubeziehen, die das Teilen von Informationen eher gewohnt sind als Ingenieurinnen und Ingenieure „alter Schule“.

 

Welche Risiken bringt die Industrie 4.0 aus Ihrer Sicht mit sich?

Anja Moldehn: Cybersicherheit ist das A und O an dieser Stelle, denn mit einer großflächigen Vernetzung wächst auch die Zahl der möglichen Angriffspunkte. Deshalb gehört nicht nur die technische IT-Sicherheit zu den wesentlichen Punkten, sondern auch die organisatorische, zum Beispiel die Schulung der Mitarbeitenden. Weitere relevante Fragen – auch aus der versicherungstechnischen Perspektive – sind sicherlich die der Datenhoheit und des Datenschutzes, um das Know-how zu sichern. Unterm Strich ist aber das größte Risiko, dass wir die Chancen nicht sehen, die in der digitalen Transformation stecken.

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